Fahrtkosten gehören zum notwendigen Existenzminimum im Insolvenzverfahren

23.10.2001

OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. 10. 2001 - 8 W 483/01

Die Ermittlung des individuellen Bedarfs gemäss § 850 f Abs. 1a ZPO ist nach § 76 BSHG vorzunehmen. Dazu gehören auch die notwendigen Fahrtkosten zur Arbeit gemäss § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG

OLG Stuttgart, Beschluß vom 23. 10. 2001 - 8 W 483 / 01

Vorinstanzen: AG Ulm, LG Ulm</P>

Zum Sachverhalt:

Im angeordneten Verbraucherinsolvenzverfahren beantragte der gemäss § 313 InsO bestellte Treuhänder beim Insolvenzgericht gemäss § 850c IV ZPO die Anordnung, dass bei der Berechnung des gemäss §§ 850 ff. ZPO pfändungsfreien Einkommens des Schuldners - neben den beiden Kindern - dessen Ehefrau wegen eigener Einkünfte nur zur Hälfte mitzurechnen sei. Der Schuldner beantragte demgegenüber nach § 850 f ZPO die Erhöhung des pfandfreien Betrags entsprechend dem von ihm näher geltend gemachten individuellen Sozial-hilfebedarf. Der Rechtspfleger des Insolvenzgerichts hat mit Beschluss vom 17.4.2001 beide Anträge zurück-gewiesen und es im Grundsatz bei dem gemäss § 850c I ZPO pfändbaren Einkommen des Schuldners unter Berücksichtigung von drei Unterhaltsberechtigten belassen, jedoch bei der Berechnung des individuellen Sozialhilfebedarfs nur einen Freibetrag wegen Berufstätigkeit in Höhe von 248 DM angesetzt und andererseits die vom Schuldner als notwendig geltend gemachten Pkw-Kosten für die Fahrten zur Arbeitsstelle außer Ansatz gelassen. Gegen den Beschluss des Rechtspflegers legten sowohl der Schuldner als auch der Treuhänder "Rechtsbehelf" ein, wobei beide - entgegen der Ansicht des Rechtspflegers - die Rechtsansicht vertraten, statthaftes Rechtsmittel sei die (sofortige) Beschwerde nach § 793 ZPO. In der Sache rügte der Schuldner, insbesondere die für ihn und seine Ehefrau notwendigerweise anfallenden berufsbedingten Fahrtkosten per Pkw müssten zusätzlich berücksichtigt werden; der bislang benutzte Pkw sei inzwischen 14 Jahre alt und müsse demnächst ersetzt werden. Der Richter des Insolvenzgerichts hat - unter vorsorglich erklärter Nichtabhilfe - mit Beschluss vom 17.5.2001 beide Rechtsmittel als sofortige Beschwerde dem LG vorgelegt. Das LG hat mit Beschluss vom 15.8.2001 in analoger Anwendung des § 793 ZPO seine Zuständigkeit als Beschwerdegericht bejaht und beide Beschwerden zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung richteten sich die sofortigen weiteren Beschwerden sowohl des Treuhänders als auch des Schuldners, die beide am 22.8.2001 bei Gericht eingegangen sind.

Die sofortigen weiteren Beschwerden führten zur Aufhebung des Beschlusses des LG und zur Zurückverweisung zur weiteren Behandlung und Entscheidung über die Erinnerungen der Beteiligten gegen den Beschluss des Rechtspflegers des AG Ulm vom 17.4.2001.

Aus den Gründen:

II. 1. Beide Rechtsmittel sind als sofortige weitere Beschwerde statthaft und darüber hinaus zulässig. Nachdem das LG eine Beschwerdeentscheidung auf der Grundlage des § 793 I ZPO getroffen hat, hält der Senat in Übereinstimmung mit OLG Köln (NZI 2000, 590 = InVo 2000, 422 = ZIP 2000, 2074) und OLG Hamburg (NZI 2001, 320) eine dagegen gerichtete weitere Beschwerde nach §§ 568 II 1, 793 II ZPO (in Verbindung mit § 4 InsO) für statthaft. Zum gleichen Ergebnis kommt das OLG Frankfurt / Main (NJW-RR 2001, 189 = NZI 2000, 531 = InVo 2000, 424) mit der Erwägung, dass die weitere sofortige Beschwerde zur Klärung des Instanzenzugs zuzulassen sei (vgl. auch OLG Köln, NJW-RR 2001, 191 = NZI 2000, 529 = InVo 2000, 420 = ZInsO 2000, 499).

Obwohl die Entscheidungen des Insolvenzrechtspflegers und des LG in der Sache übereinstimmen, ist die weitere Beschwerde nach § 568 II 2 ZPO zulässig, denn die landgerichtliche Entscheidung enthält einen neuen selbstständigen Beschwerdegrund in Gestalt eines erheblichen Verfahrensfehlers. Das LG hat nämlich seine Ent-scheidungszuständigkeit zu Unrecht angenommen. Der Senat teilt - unter Bezugnahme auf die dortigen Begründungen - die Rechtsansicht des OLG Köln (NZI 2000, 590 = InVo 2000, 422 = ZIP 2000, 2074; NJW-RR 2001, 191 = NZI 2000, 529 = InVo 2000, 420 = ZInsO 2000, 499), OLG Frankfurt / Main (NJW-RR 2001, 189 = NZI 2000, 531 = InVo 2000, 424) und OLG Hamburg (NZI 2001, 320), dass die Entscheidung über die Höhe des dem Schuldner zu belassenden Arbeitseinkommens dem Rechtspfleger des Insolvenzgerichts zusteht, aber mangels ausdrücklicher Zulassung eine sofortige Beschwerde (§ 6 InsO) nicht eröffnet ist; als zulässiger Rechtsbehelf steht nur die Erinnerung nach § 11 Abs. 2 RPflG zur Verfügung mit der Folge, dass der Richter des Insolvenzgerichts abschließend in eigener Zuständigkeit über die Einwendungen des Schuldners und des Treuhänders gegen den Rechtspflegerbeschluss zu entscheiden hat.

2. Vorsorglich weist der Senat für das weitere Verfahren vor dem AG darauf hin, dass er die Entscheidung des Rechtspflegers als überprüfungsbedürftig erachtet. Zwar sind die Vorinstanzen im Ausgangspunkt rechtlich zutreffend davon ausgegangen, dass der pfändbare Teil des gemäss § 36 InsO zur Insolvenzmasse gehörenden Arbeitseinkommens durch eine Entscheidung des Insolvenzgerichts unter entsprechender Anwendung der §§ 850 ff. ZPO einschließlich § 850f ZPO vom Insolvenzgericht abgeändert werden kann und muss (vgl. OLG Köln, NZI 2000, 590 = InVo 2000, 422 = ZIP 2000, 2074; NJW-RR 2001, 191 = NZI 2000, 529 = InVo 2000, 420 = ZInsO 2000, 499; OLG Frankfurt a.M., NJW-RR 2001, 189 = NZI 2000, 531 = InVo 2000, 424). Dies erfordert jedoch vom Insolvenzgericht, dass die im Einzelzwangsvollstreckungsrecht entwickelten Maßstäbe berück-sichtigt werden. Die Erwägungen des Rechtspflegers (und auch der Beschwerdekammer) werden dem bislang nicht im vollem Umfange gerecht.

a) Der Senat erachtet es unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes für geboten, bei Ermittlung des individuellen Soziahilfebedarfs gemäss § 850 f Abs. 1a ZPO auch die Bestimmung in § 76 BSHG zu berücksichtigen. Danach sind einem berufstätigen Schuldner neben einem allgemeinen Freibetrag (§ 76 IIa BSHG) notwendige Fahrtkosten zur Arbeit zusätzlich belassen (§ 76 II Nr. 4 BSHG). Ansonsten würde eine ungerechtfertigte Benachteiligung eines berufstätigen Schuldners gegenüber einem nicht berufstätigen Schuldner eintreten mit der zusätzlichen Gefahr, dass ein Schuldner auf Dauer nicht ordnungs-gemäß berufstätig bleiben könnte. Als allgemeiner Freibetrag für Berufstätige wird in der Regel ein Betrag von 25 bis 50% des Eckregelsatzes anerkannt (vgl.Zöller/Philippi, 22. Aufl., § 115 ZPO Rdnr. 29 m.w. Nachw.). Dies würde hier für den Schuldner derzeit einen zu berücksichtigenden Betrag von 276 DM (nicht 248 DM) und für die berufstätige Ehefrau des Schuldner bei einem angenommenen Einkommen von monatlich 400 DM einen eigenen Freibetrag von 237,50 DM ergeben.

b) Auf die Einwendung des Schuldners, angesichts seines Arbeitsantritts morgens um 4.00 Uhr sowie bei seiner Ehefrau abends um 20.30 Uhr stünden öffentliche Verkehrsmittel nicht zur Verfügung, so dass sie beide berufsbedingt auf die Benutzung eines Pkw´s angewiesen seien, der mit Steuer, Versicherung und Unterhalt erhebliche zusätzliche Kosten verursache, sind weder der Rechtspfleger noch das LG konkret eingegangen, obwohl es sich um beachtliches Vorbringen handelt. Soweit diesbezüglich noch Zweifel bestehen sollten, wäre diesen durch eine weitere Hinweis- und Aufklärungsverfügung nachzugehen.

Wären solche Kosten über die vom Rechtspfleger bereits berücksichtigten Beträge hinaus als Bedarf des Schuldners und seiner Ehefrau zusätzlich in Ansatz zu bringen, so käme eine Erhöhung des pfandfreien Betrags auch unter Einrechnung des eigenen Einkommens der Ehefrau des Schuldners in Betracht.

Fundstelle: NZI 2002, 52 – 53

Kommentar:

Auch dieser Fall zeigt wieder einmal, dass die berechtigten Belange des Schuldners erst vom OLG erkannt und gewürdigt werden, während die Vorinstanzen der Meinung waren, der Schuldner könne bei einem Schichtbeginn um 4 Uhr morgens ohne weiteres auf sein Auto verzichten.

Die aufgezeigte Fallkonstellation ist in Verbraucherinsolvenzverfahren häufig: der Schuldner benötigt zur Fortsetzung seiner ( im Restschuldbefreiungsverfahren zwingend notwendigen ) Berufstätigkeit ein Fahrzeug, da wegen des frühen Schichtbeginns öffentliche Verkehrsmittel nicht zur Verfügung stehen. Anstatt dem Schuldner die notwendigen Mittel für den Unterhalt des Fahrzeuges ( Steuer, Versicherung, Benzin u.s.w.) zu belassen, beantragt der Treuhänder, die Ehefrau bei einem Verdienst von monatlich nur 400 DM noch herauszurechnen und so den Schuldner in eine ausweglose Situation zu bringen.

Amtsgericht und Landgericht waren ebenfalls der Meinung, dass mit dem Schuldner so zu verfahren sei und erst das OLG Stuttgart hat erkannt, dass es sich bei der Berufstätigkeit des Schuldners nicht um eine reine Liebhaberei handelt, sondern dass diese eine notwendige Voraussetzung in dem anschliessenden Verfahrensabschnitt der Restschuldbefreiung ist.

Auch wenn dies explizit im Beschluss nicht erwähnt wird, so geht das OLG wohl davon aus, dass dem Schuldner bei den geschilderten Umständen auch das Fahrzeug selber zu belassen ist, da es gemäss § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO zur Berufsausübung benötigt wird und somit nicht pfändbar ist. Bei einem 14 Jahre alten Fahrzeug wäre auch eine ( ansonsten im Prinzip mögliche ) Austauschpfändung nicht mehr realisierbar.

Michael Schütz

20.1.2002