Berücksichtigung von Ansprüchen aus unerlaubter Handlung im Vollstreckungsverfahren

26.09.2002

BGH, Beschluß vom 26.9.2002 - IX ZB 180 / 02

Leitsatz des Gerichts:

Ist in dem zu vollstreckenden Titel keine oder nur eine vertragliche Anspruchsgrundlage genannt, kann der Gläubiger im Vollstreckungsverfahren ohne Zustimmung des Schuldners nicht mehr nachweisen, dass der titulierte Anspruch auch auf einer vorsätzlich begangenen Handlung beruht.

BGH, Beschluß vom 26.9.2002 - IX ZB 180 / 02

Vorinstanzen: LG Karlsruhe, AG Karlsruhe

Fundstelle: ZInsO 2002, 1183 - 1184

 

I. Die Gläubiger betreiben aus zwei Vollstreckungsbescheiden vom 18.12.1998 – der eine über 1.717,13 DM, der andere über 435,36 DM, jeweils zzgl. Kosten und Zinsen – gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung. In den Vollstreckungsbescheiden ist als Schuldgrund angegeben: "ärztliche oder zahnärztliche Leistung". Am 28.02.2002 beantragten die Gläubiger die Pfändung und Überweisung der dem Schuldner gegen die Drittschuldnerin nach dem Sozialgesetzbuch zustehenden Geldleistung (Arbeitslosengeld etc.) sowie gem. § 850f Abs. 2 ZPO die Herabsetzung des unpfändbaren Betrages auf den Sozialhilfesatz von monatlich 574,69 €. Dem Antrag war ein rechtskräftiger Strafbefehl beigefügt. Danach ist der Schuldner wegen Betruges zum Nachteil der Gläubiger (Inanspruchnahme der Behandlungen, die zu dem Vollstreckungsbescheid über 1.717,13 DM geführt hatten) verurteilt worden.

Das Vollstreckungsgericht hat den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß erlassen, den pfändbaren Betrag unter Abweisung des weitergehenden Antrages jedoch auf 630,-- € monatlich festgesetzt. Die sofortige Beschwerde hat das Landgericht mit der Begründung zurückgewiesen, die Bestimmung des § 850f Abs. 2 ZPO sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Daß die Zwangsvollstreckung wegen einer Forderung betrieben werde, die auf einer vorsätzlich begangenen Handlung beruhe, ergebe sich aus den Vollstreckungstiteln nicht. Eine weitergehende Prüfungskompetenz habe das Vollstreckungsgericht nicht.

II. Die – zugelassene – Rechtsbeschwerde der Gläubiger ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO n.F. statthaft und gem. § 575 Abs. 1 Satz 1 ZPO n.F. form- und fristgerecht eingelegt worden. In der Sache bleibt sie ohne Erfolg.

Eine Herabsetzung des pfändbaren Betrages gem. § 850f Abs. 2 ZPO scheidet – wie das Beschwerdegericht zutreffend angenommen hat – deswegen aus, weil das Vollstreckungsgericht den Titeln nicht hat entnehmen können, dass die Zwangsvollstreckung (auch) wegen einer Forderung aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung betrieben wird. Eine weitergehende Prüfungskompetenz steht dem Vollstreckungsgericht nicht zu.

1. Bei der Prüfung, ob dem Gläubiger das Vollstreckungsprivileg des § 850f Abs. 2 ZPO zu gewähren ist, ist das Vollstreckungsgericht an die Entscheidung des Prozessgerichtes gebunden, soweit dieses einen Anspruch aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung bejaht oder verneint hat (BGHZ 109, 275, 277). Ob dies auch zutrifft, wenn der zu vollstreckende Anspruch in einem Vollstreckungsbescheid als "Forderung aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung ("Eingehungsbetrug") bezeichnet wird, bedarf im Streitfall keiner Entscheidung. Denn das zur Auslegung des Vollstreckungstitels berufene Vollstreckungsgericht hat den Vollstreckungsbescheiden weder positiv noch negativ eine Aussage über einen Anspruch aus unerlaubter Handlung entnehmen können. Dies wird von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffen und lässt einen Rechtsfehler nicht erkennen.

2. Welche Rechtsfolgen eintreten, wenn sich dem Vollstreckungsgericht eine Aussage zu einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung nicht entnehmen lässt oder wenn ausdrücklich ein anderer Schuldgrund (hier: "ärztliche oder zahnärztliche Leistung") genannt wird, ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten. Teilweise wird dem Vollstreckungsgericht die uneingeschränkte Kompetenz zugebilligt, auf der Grundlage des Gläubigervorbringens selbständig zu prüfen, ob die titulierte Forderung (auch) auf einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung beruht (OLG Celle, InVo 1998, 326, 327; 2000, 428, 429; Frisinger, Privilegierte Forderungen in der Zwangsvollstreckung und bei der Aufrechnung; 1967, S. 123 f.; Büchmann, NJW 1987, 172; ebenso BGHZ 36, 11, 17 in einem obiter dictum). Nach einer weniger weitgehenden Meinung darf es berücksichtigen, dass der Schuldner die vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung zum Nachteil des Gläubigers zugesteht oder der Gläubiger ein rechtskräftiges strafrechtliches Erkenntnis (Urteil oder Strafbefehl) vorlegt, durch das belegt wird, der titulierten Forderung liege (auch) eine vorsätzliche unerlaubte Handlung zugrunde (OLG Zweibrücken, InVo 2000, 214 f.; KG, Beschluß vom 17.03.2000 – 25 W 6063/99, n.v.; Zöller/Stöber, ZPO, 23. Auflage, § 8950f Rn. 9; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 60. Auflage, § 850f Rn. 8; Bader. Zur Tragweite der Entscheidung über die Art des Anspruchs bei Verurteilung im Zivilprozeß, 1966, S. 125; Schneider, MDR 1970, 759, 770; Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 3. Auflage, § 860f Rn. 11 für den Fall, dass der Titel über den Schuldgrund schweigt). Wieder andere sind der Ansicht, das Vollstreckungsgericht dürfe außerhalb des Titels liegende Umstände keinesfalls berücksichtigen, wenn der Gläubiger es im Erkenntnisverfahren versäumt hat, den Schuldgrund einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung in die Verurteilung aufnehmen zu lassen. In einem solchen Fall sei er auf eine titelergänzende Feststellungsklage zu verweisen (OLG Hamm InVo 2000, 429, 430; OLG Stuttgart, InVo 2000, 284, 285; Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 21. Auflage, § 850f Rn. 10; MünchKomm/Smid, ZPO, 2. Aufl., § 850f Rn. 18.; Smid, ZZP 102 [1989], 22, 38; Musielak/Becker, ZPO, 3. Aufl., § 850f Rn. 10; Thomas/Putzo, ZPO, 24. Aufl., § 850f Rn. 8b). Der BGH hat die Rechtsfrage bisher in bindender Form nicht entschieden. (BGHZ 109, 275, 279 f.). Der Senat folgt der zuletzt genannten Meinung.

a) Nach § 850f Abs. 2. Halbs. 1 ZPO kann das Vollstreckungsgericht, wenn die Zwangsvollstreckung "weger einer Forderung aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung betrieben" wird, auf Antrag des Gläubigers den pfändbaren Teil des Arbeitseinkommens ohne Rücksicht auf die in § 850 c ZPO vorgesehenen Beschränkungen bestimmen. Dieser Wortlaut lässt es zu, ein "Betreiben der Zwangsvollstreckung" i.S.v. § 850f Abs. 2 ZPO nur dann anzunehmen, wenn sich der Anspruchsgrund der vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung aus dem Titel zumindest im Wege der Auslegung ergibt. Dieses Verständnis wird auch dadurch nahegelegt, dass § 850f Abs. 2 ZPO den Schuldnerschutz einschränkt und Ausnahmevorschriften nur mit Zurückhaltung erweiternd auszulegen sind.

b) Das vom Senat für zutreffend gehaltene Verständnis wird durch die Entstehungsgeschichte der heute geltenden Fassung des § 850f Abs. 2 ZPO bestätigt. Zu dieser Norm hat der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages ausgeführt (BT-Drucks, III/768, S. 2):

"Der Ausschuß hat besonders eingehend die Frage geprüft, ob mit dieser Neuregelung nicht die Gefahr verbunden sei, dass die Gläubiger versuchten, auch ohne Rechtsgrund das Vorliegen einer unerlaubten Handlung zu behaupten, um so den gesetzlichen Schuldnerschutz zu umgehen. Die Mehrheit des Ausschusses hat sich diese Bedenken nicht zu eigen gemacht, der Ausschuß kam vielmehr überwiegend zu dem Ergebnis, dass sich das Vorliegen einer Forderung aus unerlaubter Handlung bereits aus dem Vollstreckungstitel ergeben muß und nur in diesem Falle das Privileg des neuen § 850f Abs.2 ZPO in Anspruch genommen werden kann. Der Ausschuß ist sich darüber einig, dass entsprechend den Grundsätzen unseres Vollstreckungsrechts das Vollstreckungsgericht keine materielle Prüfung des vorgelegten Titels vornehmen kann. Der Gläubiger wird also in Zukunft, wenn er in der Zwangsvollstreckung das Privileg in Anspruch nehmen will , auf eine entsprechende Formulierung des Titels hinwirken müssen."

c) Gegen eine materielle Prüfungskompetenz des Vollstreckungsgerichts spricht entscheidend die bereits in den Gesetzesmaterialien hervorgehobene Aufgabenverteilung zwischen Prozessgericht und Vollstreckungsgericht. Der Umfang der Eingriffsbefugnisse eines jeden Vollstreckungsorgans, auch des Vollstreckungsgerichts, wird durch den Titel festgelegt, weil allein das Prozessgericht darüber zu befinden hat, welche Rechte dem Gläubiger zustehen und durchsetzbar sind. Das Verfahren gem. § 850f Abs. 2 ZPO vor dem Vollstreckungsgericht ist demgegenüber ein Zwangsvollstreckungs – und kein Erkenntnisverfahren. Wollte man dem Vollstreckungsgericht und damit dem in erster Linie funktional zuständigen Rechtspfleger die Prüfung überlassen, ob der Vollstreckungstitel (auch) auf einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung beruht, müsste das Vollstreckungsgericht sich ggf. auf Vorbringen und Beweismittel stützen, die nicht Gegenstand des Erkenntnisverfahrens waren. Damit würden die Grenzen zwischen den beiden Verfahrensarten und zugleich die Aufgabenverteilung zwischen Richter und Rechtspfleger verwischt. Dies träfe auch dann zu, wenn die Prüfungsbefugnis darauf beschränkt würde, ob gegen den Schuldner ergangene strafrechtliche Erkenntnisse die Annahme begründen, die titulierte Forderung beruhe nach Grund und Höhe auch auf einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung. Dabei könnte die Frage zu beantworten sein, ob der aus einem Eingehungsbetrug resultierende Anspruch auf das negative Interesse denselben Umfang hat wie der titulierte vertragliche Anspruch, der auf das positive Interesse gerichtet ist. Auch mit einer solchen eingeschränkten Prüfung würde das seinem Wesen nach auf raschen Zugriff, nicht auf Verhandlung angelegte Vollstreckungsverfahren (BGHZ 109, 275, 280) unangemessen belasten.

d) Die Auffassung des Senats wird schließlich durch die Interessenslage gestützt. Der Schuldner hat ein schützenswertes Interesse daran, sich bereits im Erkenntnisverfahren und nicht erst im Vollstreckungsverfahren darauf einstellen zu können, dass auch über den durch § 850f Abs. 2 ZPO erweiterten Umfang des Pfändungszugriffes gestritten wird. Umgekehrt kann der Gläubiger, wenn er auf die durch diese Norm erweiterten Pfändungsmöglichkeit Wert legt, den Anspruch aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung bereits im Erkenntnisverfahren geltend machen. Eine Entscheidung des Prozessgerichts kann er dadurch erzwingen, dass er neben dem Leistungsantrag die Feststellung eines derartigen Anspruches begehrt (vgl. 109, 275, 276 ff.). Falls der Gläubiger einen Anspruch aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung mit Aussicht auf Erfolg erst aufgrund von Erkenntnissen, die ihm erst nach Erwirken des Titels zuwachsen, geltend zu machen vermag, kann das Vollstreckungsgericht dem Antrag auf eine privilegierte Pfändung stattgeben, wenn der Gläubiger dem Gericht eine Urkunde vorlegt, in welcher der Schuldner einer solchen Pfändung zustimmt (vgl. § 775 Nr. 4 ZPO). Anderenfalls muß der Gläubiger nunmehr Feststellungsklage erheben, um dem Schuldner, der bisher keinen Anlaß hatte, sich gegen den Vorwurf einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung zu wehren, eine sachgerechte Verteidigung vor dem Prozessgericht zu ermöglichen.

Kommentar:

Dieser Beschluß des BGH zu einem bisher außerordentlich umstrittenen Thema in der Zwangsvollstreckung ist klar und eindeutig.

Es muß aus dem Vollstreckungstitel selber und nicht etwa aus ergänzenden Schriftsätzen des Gläubigers hervorgehen, daß es sich um eine Forderung aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung handelt. Auch etwaige spätere Strafurteile sind ( vollstreckungsrechtlich ) ohne Belang. Wenn der Schuldner einer Pfändung in den Vorrechtsbereich des § 850f Abs. 2 ZPO nicht ausdrücklich zustimmt ( was in der Praxis kaum vorkommen dürfte ), so muß der Gläubiger vor dem Prozeßgericht eine ( kostenpflichtige ) sog. titelergänzende Feststellungsklage gegen den Schuldner erheben. Erst wenn er diesen Prozeß gewonnen hat, kann er in den genannten Bereich vollstrecken.

Seit der Anhebung der Pfändungsfreigrenzen zum 1.1.2002 besteht oftmals nur noch im Vorrechtsbereich eine Möglichkeit für den Gläubiger, zu Geld zu kommen. Deshalb wird gegenüber den Vollstreckungsgerichten dann sehr häufig von den Gläubigern behauptet, es handele sich um eine gemäss § 850f Abs. 2 ZPO privilegierte Forderung, obwohl im Titel nur eine vertragliche Grundlage genannt wird.

Der BGH hat festgestellt, daß die Vollstreckungsgerichte nicht mit der außerordentlich schwierigen Aufgabe überfrachtet werden dürfen, im Nachhinein festzustellen, ob es z.B. vielleicht nicht doch ein Eingehungsbetrug war, der dem Titel zu Grunde liegt. Dies wird zwischen Gläubiger und Schuldner immer umstritten sein. Der Gläubiger hat die Möglichkeit, dies vor dem Prozessgericht zu klären.

Diese wichtige Entscheidung des BGH ist auf das Insolvenzrecht bezüglich der Anmeldung von angeblich gemäss § 302 InsO ausgenommenen Forderungen übertragbar. Nur wenn der Gläubiger einen entsprechenden Forderungstitel vorlegt und die Forderung als "ausgenommen" anmeldet, hat der Schuldner mit einem Widerspruch im Prüfungstermin kaum noch Chancen, den besonderen Charakter der Forderung mit Erfolg zu bestreiten. In allen anderen Konstellationen sind nach diesem BGH-Beschluß die Chancen bei einem Widerspruch im Prüfungstermin sehr gut, daß der Gläubiger keinen vollstreckbaren Auszug aus der Insolvenztabelle für diese Forderung bekommt.

Michael Schütz

11.2.2003